ProspeKtive

Der Schlüssel des Zeitwohlstandes im Kontext urbaner Sättigungsphänomene?

Januar 2024

Der Experte

Expert - Conny Hensel

Conny Hensel

M.Sc. Architektur, Doktorandin in Stadtplanung und Raumordnung im Cotutelle-de-thèse-Verfahren an der Universität Jean-Jaurès Toulouse (LRA-Labor) und am Karlsruher Institut für Technologie - Lehrstuhl für städtischen Wohnungsbau und Stadtentwicklung

Mit weitgehender Befriedigung materieller Bedürfnisse, steige der Wunsch nach immateriellen Gütern (Inglehart, 2000). Hierzu gehört unter anderem frei verfügbare Zeit, wie die aktuelle Debatte über die Viertagewoche unterstreicht.

Um ein gewisses Maß an „Zeitwohlstand“ zu erreichen, braucht es jedoch weit mehr als nur freie Zeit. Welche andere Determinanten sind zu berücksichtigen? Und inwiefern beeinflusst unser „Zeitwohlstand“ die Wahrnehmung unserer Umgebung - insbesondere in Städten, wo der Rhythmus intensiver erscheinen mag (Faburel & Girault, 2020), wo die "Sättigung" der Terminkalender mit räumlichen, infrastrukturellen und anderen Sättigungsphänomenen einhergeht?

Die Herausforderung der städtischen Lebensqualität

Angenommen die identifizierten Sättigungsphänomene minderten tatsächlich die städtische Lebensqualität [1], obwohl urbane Dichte und Nutzungsmischung zu Kriterien nachhaltiger Entwicklung gezählt werden (IPCC, -, Kapitel 2.6; United Nations et al., 2019). Sofern wir also am Modell der dichten und gemischten Stadt festhalten wollen, stehen wir vor der Herausforderung die Belastung durch Sättigungsphänomene zu reduzieren. Wir stellen in diesem Kontext die Hypothese auf, dass Zeitwohlstand ein Schlüssel hierfür sein könnte. Mit einem ausgeglichenen Niveau an Zeitwohlstand nehmen wir andere Stressoren gegebenenfalls weniger intensiv wahr.

Unsere Arbeit untersucht den Einfluss des „Zeitwohlstandes“ auf die Wahrnehmung anderer städtischer Sättigungsphänomene im Großraum Paris. Sie beschäftigt sich in diesem Zusammenhang auch mit dem Paradoxon eines verstärkten Eindruckes zeitlicher Sättigung in Städten, obwohl diese faktisch als „Raumzeitsparmaschinen“ interpretiert werden könnten (Henckel & Weber, 2019, p. 42) [2].

Determinanten des Zeitwohlstandes

Der Begriff des "Zeitwohlstandes" hat sich in Deutschland vor allem seit den 1990er Jahren mit der Zeitpolitik etabliert. Es handelt sich um einen noch nicht theoretisierten Begriff (Reisch, 2002), der kein Pendant in der französischen Sprache oder Zeitpolitik hat. Der Soziologe Jürgen Rinderspacher  betont die Entwicklung eines ursprünglich rein materiellen Verständnisses von „Wohlstand“ hin zu der allmählichen Berücksichtigung immaterieller und sozialer Kriterien (wie der Zeit) seit den 1980er Jahren (Rinderspacher, 2002).

In einem qualitativen Verständnis von Zeitwohlstand muss demnach über rein quantitative Zeitbudgets hinausgegangen werden. Verschiedene Forschungsarbeiten haben dazu beigetragen mögliche Determinanten des Zeitwohlstandes zu identifizieren. Die fünf folgenden Kriterien sind hierbei wiederkehrend (z.B. Geiger et al., 2021; Mullens & Glorieux, 2020; ReZeitKon, 2021; Rinderspacher, 2002; von Jorck et al., 2019):

  1. eine angemessene Qualität und Quantität an Freizeit (Mullens & te Braak, 2023)
  2. eine angemessene Zeit pro Tätigkeit(Rosa, 2005, 2018)
  3. ausreichend Autonomie/ Souveränität über den eigenen Alltagsrhythmus
  4. Koordination individueller und kollektiver Zeiten (gemeinsame Zeit mit Freunden und Angehörigen, Umgehen von Stoßzeiten, etc.)
  5. ausreichende Planbarkeit und Vorhersehbarkeit im Lebenslauf (Garhammer, 2002).

Da die genannten Forschungsarbeiten auf die Zeitdimension des Wohlbefindens fokussiert sind, können sie den räumlichen Kontext der Befragten, wie z. B. deren Wohnort oder Arbeitsplatz nicht berücksichtigen. Ein solcher ganzheitlicher Ansatz erfordert eine qualitative Analysemethode, die sowohl tägliche Rhythmen und Einschränkungen, sowie das spezifische räumliche Umfeld in Betracht zieht - so der Gegenstand unserer laufenden Forschungsarbeit.

Zeiten und Raum hinterfragen

Wir plädieren dafür, unsere täglichen Rhythmen genauso zu hinterfragen, wie wir es mit unseren Lebens- oder Arbeitsräumen zu tun pflegen. Auch wenn Zeit häufig als "äußerer" Zwang mit normativem Charakter erscheinen mag (Tabboni, 2006) und ihre (Um-) Gestaltung die Zusammenarbeit einer Vielzahl von Akteuren erfordert, so ist dies bei räumlicher Gestaltung gleichermaßen der Fall und weitaus etablierter.

Die Arbeitswelt verfügt als zentraler Zeitgeber über ein großes Potenzial bezüglich des Zeitwohlstandes. Sie beeinflusst unter anderem unsere Alltagsmobilität sowie die Quantität, Qualität und Lage unserer Freizeit. In diesem Zusammenhang stellt der Beitrag ein Plaidoyer dar, Debatten und Experimente bezüglich unserer Arbeitszeiten und -orte als Quellen des Wohlbefindens weiterzuführen.

 

[1] Und trügen damit zum Phänomen der "städtischen Lockerung" (Marie et al., 2022, S. 17) bei, welche Suburbanisierungstendenzen entspricht.

[2] Erste Hypothesen hierzu sind der "Zeit-Rebound-Effekt" (Erdmann et al., 2022; Geiger et al., 2021), der von Hartmut Rosa (2018) beschriebenen "Beschleunigungszirkel", sowie eine „harried leisure class“ (Glorieux et al., 2010; Linder, 1971) die ggf. in Städten stärker vertreten ist angesichts der Breite an Freizeit-Angeboten.  


Referenzen

Erdmann, L., Cuhls, K., & Priebe, M. (2022, juillet). Die Beschleunigung des Alltags durch den Zeit-ReboundEffekt und dessen Auswirkungen auf den Klimawandel. ZPM NR. 40, 3‑6.

Faburel, G., & Girault, M. (2020). L’environnement comme temporalisation subjective des périphéries. In M. Antonioli, G. Drevon, L. Gwiazdzinski, V. Kaufmann, & L. Pattaroni, Saturations: Individus, collectifs, organisations et territoires à l’épreuve (p. 179‑194). Elya.

Garhammer, M. (2002). Zeitwohlstand und Lebensqualität—Ein interkultureller Vergleich. In J. P. Rinderspacher, Zeitwohlstand : Ein Konzept für einen anderen Wohlstand der Nation (p. S. 165-205). Edition Sigma.

Geiger, S. M., Freudenstein, J.-P., von Jorck, G., Gerold, S., & Schrader, U. (2021). Time wealth : Measurement, drivers and consequences. Current Research in Ecological and Social Psychology, 2, 100015. https://doi.org/10.1016/j.cresp.2021.100015

Glorieux, I., Laurijssen, I., Minnen, J., & van Tienoven, T. P. (2010). In Search of the Harried Leisure Class in Contemporary Society : Time-Use Surveys and Patterns of Leisure Time Consumption. Journal of Consumer Policy, 33(2), 163‑181. https://doi.org/10.1007/s10603-010-9124-7

Henckel, D., & Weber, C. (2019). Zeiteffizient und Transparenz. In D. Henckel & C. Kramer (Éds.), Zeitgerechte Stadt Konzepte und Perspektiven für die Planungspraxis = Temporal justice in the city : Concepts and perspectives for planning practise (p. S.23-44). Akademie für Raumforschung und Landesplanung. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0156-08772

Inglehart, R. F. (2000). Globalization and Postmodern Values. The Washington Quarterly, 23(1), 215‑228.

Linder, S. B. (1971). The harried leisure class (4. print. and Columbia paperback ed). Columbia Univ. Pr.

Mullens, F., & Glorieux, I. (2020). Not Enough Time? Leisure and Multiple Dimensions of Time Wealth. Leisure Sciences, 1‑21. https://doi.org/10.1080/01490400.2020.1805656

Mullens, F., & te Braak, P. (2023). Exploring the effect of different time use and leisure time characteristics on subjective time pressure. In T. P. van Tienoven, B. Spruyt, & J. Minnen, Time reveals everything (p. 197‑218). ASP editions - Academic and Scientific Publishers.

ReZeitKon. (2021, octobre 7). Abschlusstagung : Zeit und Nachhaltigkeit. https://www.rezeitkon.de/wordpress/de/abschlusstagung/

Rinderspacher, J. P. (Éd.). (2002). Zeitwohlstand : Ein Konzept für einen anderen Wohlstand der Nation. Edition Sigma.

Rosa, H. (2005). Beschleunigung : Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne (1. Aufl). Suhrkamp.

Rosa, H. (2018). Beschleunigung und Entfremdung : Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit (R. Celikates, Trad.; 6. Auflage). Suhrkamp.

von Jorck, G., Gerold, S., Geiger, S. M., & Schrader, U. (2019). Zeitwohlstand. Arbeitspapier zur Definition von Zeitwohlstand. https://www.rezeitkon.de/wordpress/de/publikationenpresse/

Erscheinungsdatum : Januar 2024

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Architektin, Doktorandin im Bereich Architektur und Stadt am Centre de Recherche sur l'Habitat des Labors LAVUE UMR 7218 CNRS.
Professorin an der ENSA Paris Val-de-Seine und der Universität PSL

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