ProspeKtive

Stadtflucht nach Covid: Mythos oder Realität?

März 2022

Die Experten

Expert - Alexandre Coulondre

Alexandre Coulondre

Doktor in Sozioökonomie
Assoziierter Forscher am LATTS
Gründer von DIT Conseil (Data, Immobilier, Territoires)

Nicolas Cochard

Nicolas Cochard

Direktorin Pol Forschung & Entwicklung

+33 6 42 92 53 34

ncochard@kardham.com

Text verfasst von Kardham, entstanden aus einem Interview mit Alexandre Coulondre, Doktor der Sozioökonomie, wissenschaftlicher Mitarbeiter am LATTS, Gründer von DIT Conseil (Data, Immobilier, Territoires).

Wenn man vielen Presseartikeln Glauben schenken darf, profitieren die Metropolen nicht mehr so sehr von ihrer Anziehungskraft wie früher und werden, schlimmer noch, fast schon abstoßend. Vor der Gesundheitskrise wurde hier und da die Entmetropolisierung propagiert, wobei die Metropolen zumal als Vogelscheuche angesehen wurden. Eine Studie will das Phänomen der Stadtflucht, wenn es denn ein solches gibt, quantitativ bewerten. Sie trägt den Titel „Exode urbain : impacts de la pandémie de Covid-19 sur les mobilités résidentielles“ (dt. Stadtflucht: Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Wohnmobilität) und wurde vom Réseau Rural Français und dem Plan Urbanisme Construction Architecture geleitet. Hier sind die ersten Erkenntnisse.

Die erste Fragestellung war rein methodologisch: Welche Daten sollten verwendet werden? Der quantitative Ansatz bevorzugte mit Unterstützung des Unternehmens Leboncoin Daten zu den Suchanfragen von Internetnutzern, wobei deren Geolokalisierung und die Ziele verglichen wurden. Mit 14 Millionen eindeutigen Besuchern pro Monat auf der Website deckt die Studie drei Jahre Surfen und 3,5 Milliarden Seitenaufrufe ab.

Dies hat den Vorteil, dass die Daten in Echtzeit gesammelt werden können, ohne auf die INSEE-Daten warten zu müssen. Die untersuchten Daten entsprechen hingegen nicht vorgenommenen Umzügen, sondern eher Absichten oder Bestrebungen. In Zeiten des Lockdowns suchen viele jedoch ohne einen ernsthaft in Erwägung gezogenen Umzug. Die Besuche in der Immobilienrubrik von Leboncoin steigerten sich in der Tat im Zeitraum 2020-2021.

Die Ergebnisse zeugen nicht von dem so oft angenommenen territorialen Bruch. Es ist schwer, Spuren einer massiven Umorientierung der Bevölkerung zu finden, trotz der intensiven territorialen Marketingkampagnen, die von den jeweiligen Gebieten veranstaltet werden.

Man kann sehen, dass die bereits vorher vorhandenen Dynamiken fortbestehen, wobei die Ströme innerhalb der Metropolen oder von Metropole zu Metropole stabil geblieben sind. Andererseits bleibt die Dynamik der Periurbanisierung umfassend und stabil.

All dies stellt den Begriff der Stadtflucht in Frage. Handelt es sich um Stadtflucht, wenn ein Pariser nach Nantes umzieht, wenn man das Stadtzentrum verlässt, um in ein Vorstadtgebiet zu ziehen, wenn man eine Metropole verlässt, um in eine mittelgroße Stadt zu ziehen? Im engeren Sinne nicht, und dieser Begriff sollte relativiert werden.

In Bezug auf die Ströme von der Stadt auf das Land muss man feststellen, dass sie nur in geringem Umfang vorhanden sind und sich kaum weiterentwickeln. Die Zahl der Stadtbewohner, die seit 2020 zu Landbewohnern wurden, ist weiterhin mit dem Niveau von 2019 vergleichbar. Außerdem ist die Attraktivität der westfranzösischen Küste ungebrochen, aber dieses Phänomen verschärft sich nicht besonders.  

Zwar zeichnen sich einige Profile ab, wie z. B. Vorruheständler oder Führungskräfte mit Telearbeit, doch die Schwemme auf das Land oder in die Kleinstädten ist ausgeblieben. Man kann sich fragen, welche Veränderungen es gibt. Es gibt ziemlich neuartige Ströme, die seit 2020 zwischen bestimmten Stadtzentren und bestimmten ländlichen Gebieten entstanden sind. Diese Ströme sind nicht massiv und fallen daher bei der ersten Auswertung nicht auf. Eines muss jedoch klargestellt werden: Einige Dutzend Großstadtbewohner, die sich in ländlichen Gebieten oder Kleinstädten niederlassen, sind für das Aufnahmegebiet ein bedeutendes Phänomen, während sie für das Abwanderungsgebiet unbedeutend bleiben. Die Stadtflucht bezieht sich also auf sehr kleine Ströme, die lokal große Auswirkungen haben können.

Es ist nicht gewagt, die anhaltende Anziehungskraft der Metropolen und der zentralen Lage zuzugeben, trotz der Phantasien nach mehr Grün, die seit einiger Zeit zweifellos zugenommen haben. Die Gesundheitskrise, die wir seit zwei Jahren erleben, hat den klassischen territorialen Prozessen der Metropolisierung, Periurbanisierung und Litoralisierung kein Ende gesetzt. Letztendlich fragt man sich, ob die so oft zitierte Stadtflucht nicht einfach eine Fortsetzung längerfristiger Dynamiken ist, die sich durch den Wegzug aus der Stadt in ... Städte auszeichnen.

Die Krise hat nicht zur Folge, dass die Städte sich leeren. Attraktive Gebiete bleiben attraktiv, weniger attraktive Gebiete auch. Die Welt der Zukunft wird städtisch und immer großstädtisch sein, auch wenn neue Verhaltensweisen (zwei Wohnsitze, Telearbeit) einigen gut vernetzten ländlichen Gebieten zugutekommen könnten.

 

Link zur Studie: https://popsu.archi.fr/sites/default/files/2022-02/PopsuTerritoires-exodeurbain_v12.pdf

Der quantitative Teil dieser Umfrage ist das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit von Alexandre Coulondre (LATTS, DIT Conseil), Marianne Bléhaut (Crédoc) und Claire Juillard (OGGI Conseil).

Erscheinungsdatum : März 2022

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